Die Stadt, der Müll und die Eimer

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Ein grauer Sonntag im Februar. Mit Kamera und Frau mache ich mal wieder einen Spaziergang in der Stadt. Ja, wir gehen auch in den weniger attraktiven Stadtteilen umher, denn hier ist es überall schön. Als wir an einer unansehnlichen Kreuzung inmitten einer Wohnsteppe warten mussten, fiel mir der Mülleimer am Ampelmast auf. Weniger war es sein unappetitlicher Inhalt als seine äußere Erscheinung, die meine Aufmerksamkeit erregte.  Die Aufschrift „Stille Eimer sind tief“, einst von der Stadtreinigung sowohl zur hoffentlichen Inanspruchnahme als auch zur allgemeinen Erheiterung dort installiert, war kaum noch zu entziffern. Der von weitem noch rötlich wirkende Plastikbehälter war übersät mit einer Vielzahl von Farbklecksen, Aufklebern, Dellen und Sprayspuren.

Ich konnte mich während der Wartezeit bei Rot kaum sattsehen am Farben- und Formenspiel und all den unwichtigen Informationen. Meine Frau war schon mindestens zwei Ampelphasen zuvor auf die andere Seite gegangen, ich winkte ihr zu, sie möge schon vorgehen. Aber sie wartete. Sie wartet meistens auf mich, wenn ich fotografiere. Ich achtete nicht auf die Passanten die mir verständnislos zusahen, wie ich den Mülleimer von allen Seiten versuchte, ins rechte Licht zu rücken. Ein kleiner Junge fragte seinen Vater, was der Mann denn da mache.  Schließlich entschied ich mich, den Mülleimer genau frontal auf Bauchnabelhöhe zu fotografieren. Ein paar Schüsschen noch zur Sicherheit und rüber zur Gemahlin.

Schon wieder Rot, Mist. Aber drüben auf der anderen Seite war ja noch ein Mülleimer. Tatsächlich, auch dieser Abfallbehälter strahlte einen  gewissen Reiz aus. Schon etwas routinierter wanderten wieder einige Fotos auf die Speicherkarte. Im Laufe des Spazierganges fielen mir immer mehr Mülleimer auf, die ursprünglich rot mit flotter Müll-Spruchblase, auf unterschiedlichste Weise verändert wurden. Pfiffige und humorvolle Köpfe haben die zahlreiche Sprüche ersonnen, die mit augenzwinkernder Leichtigkeit die Nutzung der sonst eher langweiligen Plastikboliden zu einem Spaß machen sollten. Von Werbeschildern mit Internetadressen bis hin zu privaten Hilferufen, wie „Katze entlaufen“, finden sich eine Vielzahl von meist unwichtigen Aussagen, Aufrufe zu Demonstrationen oder Lebenshilfe im Allgemeinen. Hier kommt jeder zu Wort und gänzlich ungestraft. Er hilft sogar ein Kunstwerk schaffen.

Viele bedeutende Kunstwerke wurden mit deutlich weniger Aufwand und in sehr viel kürzerer Zeit von erheblich weniger Künstlern fertig gestellt. Wir haben es hier mit Gemeinschaftsarbeiten unterschiedlichster Mitwirkender zu tun, die ganz individuelle Methoden zur Gestaltung anwenden und so zum Gelingen beitragen. Mal ist es ein achtlos im Vorübergehen eingeworfener Döner, der nach wenigen Happen vom Käufer verschmäht, bei seinem Flug die kleine Öffnung des Mülleimers knapp verfehlte. Bei seiner Landung krallten sich einige Kohlreste am Rand des Einfüllloches fest. Etwas Mayonaise gab ein paar Fleichstücken Halt, deren Säfte langsam über einen verblichenen Aufkleber der Piratenpartei sickerten um sich an einem angebaxten Kaugummi in zwei kleinere Rinnsale zu teilen. Ein andermal war es der grobe Tritt eines zornigen Radfahrers, der vom Autofahrer beinahe übersehen, seiner Wut an dieser Stelle Ausdruck verleihen wollte. Oder auch die Kippe, die im Innenraum an der richtigen Stelle gelandet, nach einiger Zeit für einen Schwelbrand mit anschließender Plastikschmelze sorgte und so ein deutliches Zeichen der Veränderung setzte.

Diese Arbeiten können ihren Reiz aber auch erst durch die Hilfe äußerer Einflüsse, wie Regen, Wind, Sonne, Abgase und biologischer Prozesse ganz entfalten. Ein Biotop aus Moosen, Flechten und bakteriellen Kulturen findet nach und nach Halt zwischen angerissenen Papierrändern und klebrigen Müllresten und bildet die Basis für neuen Humus und neues Leben, neue Kunst.  Auch Mitarbeiter der Stadtreinigung tragen zu diesem laufenden Prozess mit bei, indem sie immer wieder verborgene Inhalte entfernen oder mit schroffem Werkzeug neue Farben und Narben auftragen. Ab und an werden die Eimer nach einem geheimnisvollen Plan in einer Nacht- und Nebel-Aktion ausgetauscht gegen gereinigte oder komplett neue Papierkörbe die dann sauber, unschuldig und knallrot auf unbekannte Designer warten. Mit manchmal ganz neuen Müll-Sprechblasen. Sauber, ordentlich, aber:

Kunstwerke, die Generationen von Künstlern über Jahre geschaffen haben, sind so unwiederbringlich verloren. Da sah ich endlich eine sinnvolle Lebensabschnittsaufgabe für mich: Rette die Mülleimer-Kunstwerke für die Nachwelt. Im Laufe der Jahre sammelte ich so unzählige Müll-Kunstwerke unter teils schwierigen Bedingungen zusammen. Häufig war ich dem Hohn und Spott der Passanten ausgesetzt. Einige Mülleimer traf ich nach Jahren wieder und erkannte sie sogar an ihren besonderen Eigenheiten.

Erst die Menge verschiedener Mülleimer macht die Sache interessant. Nicht die Sprüche darauf sondern die zahlreichen äußeren Einflüsse sind es. Mein Augenmerk galt und gilt eher den Sprüchen, die nur noch Fragmente sind. „Ko tz, kom Ra“, „Wer wi llionär“ oder „Für mi z halt“ zum Beispiel, oder nur „Ausp“. Manchmal auch der Inhalt, der aus den Körben lugt, Flaschen, Plastiktüten und Regenschirme aber auch Essensreste und Coffeshopbecher. Hin und wieder findet man eine Komplettumgestaltung.

Eigentlich mag ich nur die Körbe, die oben rund sind wie ein Torbogen, die eckigen und auf dem Boden stehenden fallen nicht mehr in mein Beuteschema. Es sei denn, sie haben etwas umwerfend Besonderes. Auf der Internetseite der Hamburger Stadtreinigung (stadtreinigung-hh.de) sind nur noch die neuen eckigen Körbe im Angebot, dafür aber mit allen Sprüchen und gänzlich sauber und unverklebt.

Ich hoffe, einen kleinen Beitrag zu leisten, damit unsere Kinder, Enkel und Nachkommen später einen Eindruck gewinnen, welche Bedeutung der Müll kurz nach der Jahrtausendwende in Hamburg für seine Bürger hatte. Vielleicht gibt es später gar keinen Müll mehr und keine Eimer. Würde da nicht etwas fehlen in unserer Stadt.

Allen Fotofreunden allzeit „GUT LICHT“ wünscht  Bernd Nasner

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